Mein Reha-Tagebuch
Prolog
Morgen trete ich die erste Reha-Maßnahme meines Lebens an. Natürlich ist man durch den einen oder anderen Berührungspunkt mit dem deutschen Gesundheitssystem in der Vergangenheit geprägt und macht sich so seine Gedanken. Aber verhalten wir uns mal wie Christine Lambrecht während ihrer Zeit als Verteidigungsministerin und vertrauen darauf, dass alles gut wird, ohne einen eigenen Beitrag dazu zu leisten.
Doch noch bevor ich den ersten Schritt in die Reha-Klink setzen werde, wartet bereits die größte Herausforderung auf mich. Ich habe mich – abenteuerlustig wie ich bin – für die Anreise mit der Deutschen Bahn entschieden. Phrasenmäher – Danger Seeker. Bin wirklich gespannt, ob ich das Aufnahmegespräch um 12.45 Uhr wirklich wahrnehmen kann, denn ich würde planmäßig nur eine Stunde vorher nach zwei Umstiegen an meinem Zielort ankommen. Da muss Weltfrauentag und Hexensabbat schon auf einen Tag fallen. Aber hey! Warum sollte da was schief gehen? Die Bahntickets, die ich mit einem speziellen Faxbogen der Rentenversicherung (ach, jetzt tun Sie nicht so überrascht, als hätten Sie hier etwas anderes als einen Faxvordruck erwartet) bei der Deutschen Bahn vor vier Wochen bestellt habe, sind ja auch rechtzeitig….äähhm…..ach so. Nein, ich sehe gerade: Die Tickets sind doch nicht gekommen.
Ich denke übrigens darüber nach, mir einen Reha-Namen zuzulegen. Einfach nur so. Um mal anders zu heißen. Vielleicht Jimmy. In den diversen Vorstellungsrunden würde ich sagen:
„Hallo, ich bin Frank. Aber alle nennen mich nur Jimmy.“
„Äääh“, würde der erste Typ mir entgegnen, „was haben denn die Namen Frank und Jimmy miteinander zu tun?“
Und ich würde dann so etwas sagen wie: „Das kann ich dir leider nicht verraten, Arne. Aber es hat mich hierher in die verdammte Rehaklinik gebracht.“
Arne heißt dann übrigens in Wirklichkeit auch nicht Arne, aber ich habe jetzt schon entschieden jeden männlichen Mitinsassen, dessen Namen ich nicht kenne oder den ich wieder vergessen habe, einfach Arne zu nennen.
Das hört sich alles nach einem Plan an. Ich buche jetzt meine
Zugtickets selbst, packe meinen Koffer und dann geht es morgen los.
Tag 1
Es ist 9:12 Uhr und ich sitze seit 8:41 Uhr im ICE von Hannover nach Fulda. Das ist gut, hätte aber auch anders ausgehen können. Aus verschiedenen Gründen. Wenn ich nämlich zum Beispiel wie zuerst geplant die S-Bahn nach Hannover um 7:50 Uhr genommen hätte, hätte ich den Anschluss aufgrund einer 15-minütigen Verspätung verpasst. Aber ich bin zwar abenteuerlustig, aber nicht größenwahnsinnig und habe lieber den Regionalexpress um 7:22 Uhr genommen.
Dadurch hatte ich auch noch den Vorteil, dass ich einen früheren ICE von Hannover nach Fulda nehmen konnte, den um 8:26 Uhr. Aber es kam natürlich anders. Noch bevor ich in den Regionalexpress nach Hannover eingestiegen bin, habe ich am Bahnsteig stehend in der Bahn-App in alarmroter Schrift schon gesehen, dass der 8:26 Uhr-ICE nicht in Hannover halten wird. Warum auch immer. Gut, kein Problem. Ich wusste von der Reiseplanung gestern ja noch, dass um 8:41 Uhr noch ein ICE fährt. Dort habe ich aber natürlich keinen Sitzplatz reserviert.
Aus diesem Grund bin ich - fast pünktlich in der niedersächsischen Landeshauptstadt angekommen - ins Reisezentrum gegangen, um zu erfahren, ob man noch einen Sitzplatz reservieren kann. Dort hat sich dann der folgende Dialog abgespielt:
DB: „Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“
Phrasenmäher: „Hallo. Ich wollte mit dem 8:26 Uhr-ICE nach Fulda fahren, habe aber vorhin in der App gesehen, dass der heute nicht in Hannover hält. Nun möchte ich den 8:41 Uhr-ICE nehmen und fragen, ob ich da noch einen Sitzplatz reservieren kann.“
Die wirklich freundliche Bahn-Mitarbeiterin tippte wild auf ihrer Tastatur herum und ich erwartete schon die Antwort: Computer sagt nein. Stattdessen fragte sie schließlich: „Welchen ICE wollten Sie ursprünglich nehmen?“
Phrasenmäher: „8:26 Uhr.“
DB: „8:26 Uhr? Den gibt es doch gar nicht mehr.“
Phrasenmäher: „Wie, den gibt es nicht mehr. Ist das jetzt ein Geisterzug oder wie?“
DB: „Ich sehe den hier auch gar nicht. Den 8:26 gibt es nicht mehr, oder? Wann haben Sie denn die Tickets gekauft?“
Phrasenmäher: „Na gestern.“
DB: „Gestern? Nee, also ich kann den hier nicht sehen.“
Während die nette Dame weiter in Ihrem PC suchte, erwiderte ich: „Naja, ist ja auch eigentlich egal…..das mit dem Geisterzug. Ich will ja jetzt mit dem 8:41 fahren und einen Sitzplatz reservieren, wenn das noch geht.“
Und was soll ich sagen: Weil in der 2. Klasse nichts mehr frei war, wurde ich tatsächlich kostenlos in die 1. Klasse upgegradet. Herzlichen Dank für diesen Kundenservice!
Bevor ich aber meinen Platz einnehmen konnte, schlug natürlich noch etwas zu, was unvermeidlich war. Richtig: umgekehrte Wagenreihung. Nun hätte ein routinierter Bahnfahrer dies vermutlich bereits noch am Bahnsteig stehend erkannt. An irgendeinem geheimen Zeichen. Eine seltsam mit den Augen zwinkernde, am Bahnsteig stolzierende Taube vielleicht. Ich aber nicht. Und 80% der Wartenden auch nicht.
So bricht dann langsam aber sicher bei immer mehr Passagieren Hektik aus, als der Zug einfährt. Immer mehr von ihnen stehen an der Betonkante und bewegen den nach vorne gerichtetem Zeigefinger bei jedem Wagen nach oben und unten, als wollten sie die Waggons zählen. Als sie dann sicher sind, dass die Waggonnummern entgegen der Erwartung ab- und nicht aufsteigen, fängt das Gerenne an.
Ich muss in Wagen 10 und renne von Wagen 3 los. Bis Wagen 9 bleibe ich auf dem Bahnsteig, dann reihe ich mich im Waggon in eine Schlange ein, die von einer entgegen gesetzt laufenden Schlange flankiert wird. Ich komme mir vor wie auf einer Ameisenstraße. Es hätte eine Szene aus einem Loriot-Film sein können, wie die beiden Ströme von Menschen in Winterkleidung große Koffer hinter sich herziehend versuchen, in dem schmalen Gang aneinander vorbei zu kommen. Mittendrin ein Rollstuhlfahrer.
Tja, und das war dann schon alles. Wer das jetzt nur wegen des Bahn-Bashings gelesen hat, kann aufhören. Es ist nichts mehr passiert. Der ICE war pünktlich in Fulda und am Gleis stand schon der Regionalexpress bereit, der mich an mein Ziel bringen sollte. Keine weitere Verspätung, kein unplanmäßiger Halt. Nichts.
Ach so, nee. Ihr könnt doch weiterlesen, denn ich muss ja in drei Wochen auch wieder mit der Bahn nach Hause.
In der Klinik angekommen wurde mir gesagt, dass mein Aufnahmegespräch
sich um 1 ½ h verschiebt. Naja, schau ich mich erst mal um. Beim Gespräch mit dem
Arzt sind viele Dinge besprochen worden. Zum Beispiel habe ich gesagt, dass ich
aufgrund meiner Handballer-Knie nur auf geradem Weg, also nicht bergauf oder noch
schlimmer bergab laufen kann. Dachte ich sag´s mal. Weil es hier schon ganz
schön hoch und runter geht. Und was bringt es, wenn das Knie dann so angegriffen
ist, dass ich auch andere Therapien nicht mehr machen kann.
Abends nehme ich meinen Therapieplan für morgen aus dem Postfach. Erster Termin um 9:00 Uhr: „Nordic Walking – Einführung“.
Tag 2
Ich sitze beim Frühstück mit Karl. Ich habe, wie das so üblich ist, feste Tischpartner zugewiesen bekommen. Karl wohnt eigentlich auf Mallorca und ist jetzt wegen der Reha rübergekommen. Kann man so machen. Ich schätze ihn auf ca. 65 Jahre. Viel mehr kann ich leider nicht über ihn sagen. Denn er spricht sehr leise mit heiserer Stimme. Und aufgrund der lauten Hintergrundgeräusche bestehen unsere Gespräche meistens daraus, dass Karl spricht und ich nicke ihm zu, um ihm so das Gefühl zu geben, dass ich verstehe, was er da brabbelt.
Der dritte im Bunde kommt in den Speisesaal und nähert sich unserem Tisch. Er begrüßt uns mit einem kurzen: „Karl. Jimmy.“ Karl murmelt irgendwas von „Hut geschlafen“ in seinen Bart. Ich erwidere ebenfalls kurz angebunden: „Arne.“
Arne hat mir gestern seinen richtigen Namen gesagt. Da er aber im gleichen Atemzug erwähnte, dass er übers Wochenende nach Hause fährt, Sonntag Abend wiederkommt und Montagmorgen abreist, habe ich den Namen gleich wieder vergessen.
Ich muss mich sputen, denn ich habe beschlossen, erst einmal zu „Nordic Walking – Einführung“ in der Sporthalle zu gehen. Der Hallenboden ist ja eben. Ich stehe mit ein paar Mitleidenden im Flur vor der Umkleidekabine und die Therapeutin fragt: „Wissen alle, was Nordic Walking ist?“ Neben mir steht Arne, also ein anderer Arne, und antwortet genervt: „Sinnloses durch die Gegend laufen.“
Nicht nur die Therapeutin hat den Eindruck, dass Nordic Walking nicht Arnes Hauptfreizeitbeschäftigung ist. Ohne die Offenheit des Patienten zu würdigen, fährt sie ihn von der Seite an und empfiehlt den Abbruch der Reha-Maßnahme. Im etwas peinlichen Moment der Stille im Flur grübele ich darüber nach, ob taktisch jetzt der richtige Zeitpunkt ist, meine Knieprobleme zur Sprache zu bringen. Ich lasse es, starte mein Karl-Nicken in Richtung der Therapeutin und entscheide mich stattdessen, gleich ins Planungsbüro zu gehen.
Dort erkläre ich die Situation. Die Planerin stimmt sich kurz mit meinem Arzt von gestern ab und teilt mir mit, dass die Nordic Walking-Kurse bei mir rausgenommen werden.
Nach dem Abendessen hole ich aus dem Postfach den Therapieplan für die
kommende Woche. Es steht an drei Tagen Nordic Walking auf dem Programm und am
Donnerstag ein Schwerbehindertenseminar. Beides verstehe ich nicht. Warum mache
ich ein Schwerbehindertenseminar? Weil ich schwer bin? Soll ich referieren oder
als Beispiel dienen, dass es schlimmeres gibt? Ich weiß es nicht, spreche aber
am Montag wieder im Planungsbüro vor.
Tag 3
Abends treffe ich mich mit meinen Bekanntschaften Markus, Steffi und Bärbel, um ein bisschen Rommee zu spielen. Als ich ankomme, fragt mich Steffi: "Jimmy, trinkst du auch Wasser?" und hält dabei eine Trinkflasche hoch. "Nee. Ich habe selbst meine Flasche mit. Danke!"
Markus rät: "Du solltest das Wasser von Steffi nehmen, Jimmy." Der Groschen fällt endlich und ich frage nach der Marke. "Chardonnay", flüstert Steffi. "Lecker", erwidere ich.
Tag 4
Ich sitze beim Abendessen mit Karl. Er ist wieder da. Ich habe heute versucht herauszufinden, was Karl so macht auf Mallorca. Er erklärt es mir, ich nicke. Ich bin mir unsicher, was ich verstanden habe. Entweder arbeitet er an einer Atombombe oder er ist der Inhaber einer Autowaschanlage. Ich stelle mir vor, wie ich auf ihn gerade wirken mag, falls er wirklich an einer Atombombe arbeitet: "Ja, ähh. Jimmy, ich weiß nicht was du davon hältst, aber ich entwickele gerade eine neue Atombombe." Dann schaut er mich an und ich sitze im nickend gegenüber. Wahrscheinlich habe ich zufällig beim Wort Atombombe angefangen zu lächeln. Es kann aber auch anders gewesen sein. Ganz anders.
Tag 17
Ja, richtig gelesen. Tag 17. Keine Angst, ich komme gleich dazu, was noch alles passiert ist. Aber zunächst muss ich erklären, weshalb diese große Lücke in der Berichterstattung entstehen konnte. Der Grund ist, dass mich diese Reha-Klinik in den Wahnsinn getrieben und jegliche Kreativität ausgesaugt hat. Einige Punkte habe ich ja bereits unter Tag 3 ausgeführt. Aber im Laufe der Zeit sind etliche weitere Unzulänglichkeiten zum Vorschein gekommen, die mich übertrieben genervt haben. Nur drei Beispiele:
Essen
Man lernt hier in Seminaren, wie man sich gesund ernährt. Viel Gemüse zum Beispiel. Für diese Erkenntnis allein hätte es die Reha übrigens nicht gebraucht. Mittags und abends gibt es hier eine .... ja wie soll ich es nennen .... gut, nennen wir es unzutreffender Weise mal Salatbar. Diese besteht immer (immer bedeutet in diesem Fall nicht immer. Manchmal gab es auch weniger als nachfolgend angegeben) aus Salatblättern, Tomaten, Gurken und Paprika. Dazu gesellt sich dann ein weiteres Gemüse wie Senfgurken, Mixed Pickles oder etwas anderes, das Vivien in der Küche aus einem Einweckglas geprokelt hat. Vivien ist übrigens die weibliche Arne.
Zwei Mal täglich konnte man sich also seinen Salat aus Salatblättern, Tomaten, Gurken und Paprika zusammenbauen. Einmal habe ich gedacht, die Küchencrew wollte uns verhöhnen, als sie als fünftes Element einen Bauernsalat gemacht hat. Aus Tomaten, Gurken und Paprika. Und Schafskäse natürlich.
In einem der Seminare wurde uns vermittelt, dass es wichtig ist, jeden Tag Ballaststoffe wie Kürbiskerne oder Saaten zu sich zu nehmen. Ich meldete mich zu Wort und merkte an, dass kein einziges Nahrungsmittel, das da gerade auf der Ballaststoffe-Folie steht, am Salatbuffet zu haben sei. Außer Salatblätter, Tomaten, Gurken und Paprika gehören auch in diese Kategorie. In diesem Fall würde ich meine kritische Bemerkung zurückziehen. Die Ernährungsberaterin erläuterte, dass man leider immer wieder erfolglos versuche auf die Küche einzuwirken.
Weiter ging es mit dem Tipp, dass man Nudeln oder Reis mit den entsprechenden Vollkornvarianten ersetzen sollte. Die neben mir sitzende Steffi kam mir zuvor, meldete sich zu Wort und fragte, warum es denn hier mittags keine Vollkornnudeln als Alternative gäbe. Daraufhin verlor die Ernährungsberaterin die Lust und das Seminar war auch bald beendet.
Therapieplanung
Die unter Tag 2 beschriebenen Probleme haben sich weiter fortgesetzt. Wenn man Änderungen mit den Ärzten bespricht, ändert das erst einmal gar nichts. Anfangs rennt man immer wieder zusätzlich zu den Planern hin. Später gibt man auf und nimmt die falsch geplanten Termine einfach nicht mehr wahr.
An einem Tag musste ich früh morgens in die Diagnostik, weil mir ein 24 h-Blutdruckmessgerät angelegt wurde. Nicht so ein modernes Handgelenkgerät, das den Patienten nicht die halbe Nacht kostet, sondern ein Gerät, wie es sie halt 1996 gab, als vermutlich das letzte Mal etwas in die Klink investiert wurde.
Ich fragte die Mitarbeiterin, wie sich das Tragen des Gerätes mit meiner Wassergymnastik um 14.30 Uhr verträgt. "Eigentlich gar nicht", antwortete Vivien. "Na, da können Sie ja froh sein, dass ich mitgedacht habe. Sonst wäre ich mit dem angelegten Gerät vielleicht einfach ins Becken gesprungen."
Wenn eine Blutdruckmessung durchgeführt wird, egal ob über oder unter Wasser, soll man still stehen bleiben und sich für die Dauer der Messung nicht bewegen. Das führte zwei Mal zu unangenehmen Situationen. Als ich einen Spaziergang unternommen habe, fing eine Messung genau in dem Moment an, als ich vor der Tür eines Supermarktes stand. Schlagartig blieb ich mitten im Laufweg stehen. Menschen, die Einkaufen wollten wunderten sich, warum da ein dicker Mann mitten im Weg steht. Damit die Situation nicht ganz so peinlich war, schaute ich in die Luft als hätte ich ein Ufo gesehen. Ob das mein Auftreten etwas weniger seltsam erscheinen ließ, vermag ich nicht zu sagen. Irgendwann war das Ufo weg bzw. die Messung beendet und ich konnte meinen Weg fortsetzen.
Ähnliches geschah als ich zurück in der Reha-Klinik wie in Stein gemeißelt auf dem Flur zu meinem Zimmer stand. Neuankömmling Arne bog mit Sack und Pack in den Flur ein und musterte mich neugierig. Ich konnte es genau in seinen Augen ablesen: Warum steht der Typ da bewegungslos in der Mitte des Flurs herum? Quasi als Begrüßungsgeschenk für Arne murmelte ich spontan leise aber gut hörbar: "Tomaten. Gurken. Paprika. Überall Tomaten. Gurken. Paprika." Arne verschwand zügig in seinem Zimmer. Ich bin sicher er kontrollierte als erstes, ob die Fenster Gitter haben und ob sich die Zimmertür auch von innen öffnen ließ.
Der Gast ist König - solange er nichts trinken will
An einem Wochenende kam meine geliebte Frau zu Besuch, um mich ein wenig aufzubauen. Sie konnte bei mir im Zimmer auf dem Sofa übernachten. Echt bequeme Lösung für 68 EUR pro Nacht. Am Freitag vorher kam der Hausservice vorbei, um das Bettzeug zu bringen. Im Gehen begriffen fragte ich - aus meiner Sicht eine rhetorische Frage: "Handtücher und ein Glas bringen Sie noch, oder?" Auf die Antwort war ich nicht vorbereitet: "Handtücher ja, ein Glas nicht."
"Wieso kein Glas?" wollte ich wissen.
"Ein Glas ist nicht vorgesehen."
"Und wenn meine Frau Durst hat, hängt sie sich einfach unter den Wasserspender oder wie muss ich mir das vorstellen?"
"Ein Glas ist nicht vorgesehen."
"Also. Ich muss jetzt zur Wasserbüffelgymnastik. Wenn ich wieder da bin, steht da in meinem Zimmer ein zweites Glas."
Manchmal muss man leider hier deutliche Worte finden, sonst bleibt man das, was man aus Sicht der Klinik ist: Ein Kostenfaktor. Mehr nicht.
Aber um noch einmal auf die Wasserbüffelgymnastik zurückzukommen. Was ja bei allen sportlichen Maßnahmen hier fehlt, ist der Wettbewerbsgedanke. Jeder wartet durchs Wasser so gut er kann - oder so gut er eben will. Da fehlt mir einfach was. Dies wollte ich eines Tages ändern.
Am Ende der Bahn angekommen, drehte ich mich am Beckenrand. Eine Bahn weiter stand Vivien. Vivien ist bestimmt 75 Jahre alt. Als unsere Blicke sich treffen, frage ich sie: "Bock auf ´nen Battle?" Falls sie eine Antwort gegeben hat, ist diese in den Fluten versunken. Außer einem verständnislosen Blick kam nichts. So habe ich weiter so gut ich wollte meine Bahnen gezogen.
Plötzlich stoppte die Musik und die Therapeutin am Beckenrand erklärte: "Jetzt erfülle ich einen Musikwunsch. Das große PUR-Medley."
Alle Frauen jubilierten und schoben ihre Körper einen tucken schneller durchs Wasser, als hätten sie Hartmut Engler höchstpersönlich aus der Umkleide kommen sehen. Alle Männer stöhnten verzweifelt auf. Alle Männer? Nein. Als die Musik einsetzte, schleuderte neben mir Arne mit einem Lächeln im Gesicht seine Arme im Wasser heftig hin und her, als wollte er den vor Begeisterung dem Wasser zugeführten Urin in alle möglichen Richtungen verteilen.
"Arne, hast DU dir das etwa gewünscht?" rief ich in seine Richtung, während ich das Wasser um ihn herum nach gelblichen Verfärbungen scannte.
"Jau."
"Warum?"
"Ich bin der größte PUR-Fan, den es gibt!"
"Warum?"
"Ich habe sogar ein PUR-Tattoo. Soll ich mal zeigen?"
Kopfschüttelnd wartete ich zu Oma Vivien herüber. Ich brauchte dringend ein Erfolgserlebnis. "Wir machen jetzt ein Rennen bis zur anderen Seite. Ob du nun willst oder nicht." Sie hatte noch einen kleinen Vorsprung, aber ich konnte schnell zu Vivien aufschließen. Als ich an ihr wie ein Tanker an einem Ruderboot vorbeischoss, fiel mir an ihrem linken Arm eine Blutdruckmanschette auf. Egal. Als ich mich kurz umschaute, beobachtete ich wie Oma Vivien von dem Sog hinter mir unter Wasser gezogen wurde. Immer noch egal. Ich werde dieses Battle gewinnen, koste es was es wolle.
Karl ist zu diesem Zeitpunkt übrigens schon lange abgereist. Ich verabschiedete mich beim Abendessen von ihm und er wünschte mir entweder ein Hämorrhoiden-freies Leben oder viel Glück bei der Straußenzucht. So genau habe ich es nicht verstanden. Und irgendwie war es mir dann auch egal.
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